Essay/Kolumne

Allein Sein können – eine Kunst

Wer ist schon gern allein? Alleinsein ist doch irgendwie mit einem Makel besetzt – irgendetwas stimmt nicht mit mir, keiner mag mich, mag seine Zeit mit mir verbringen…
Und doch: Alleine sein ist nicht gleich einsam sein. Alleine sein heißt, in diesem Moment ohne andere zu sein. Unser Leben bietet viele solcher Momente: Alleine im Büro sitzen, auf den Berg gehen, ins Bad, alleine für die Prüfung lernen, lesen, in der Kirche sitzen. Wer alleine wohnt, verbringt vermutlich viel Zeit allein. Viele Tätigkeiten setzen das Alleinsein voraus – komplizierte Kopfarbeiten, Tüfteleien, Rechnereien. Kunst entsteht meist im Alleinsein, ein Roman, ein Bild, eine Komposition.
Wer gerade alleine ist, muss sich nicht zwangsläufig einsam fühlen. Sich einsam fühlen, das kann man überall: auch unter vielen Leuten, sogar an der Seite seines Partners. Einsamkeit ist ein ungeliebtes, trauriges, ein manchmal notwendiges Gefühl. Das nicht unbedingt mit dem Alleinsein zusammenhängt.

Allein Sein können ist eine Kunst

Manche Menschen brauchen mehr Alleinsein – um sich zu erholen, regenerieren, ihre Gedanken zu ordnen, Entscheidungen zu treffen – andere meiden das Alleinsein wie der Teufel das Weihwasser. Manche suchen so krampfhaft nach Kontakt, dass sie sich in schlimmste unpassendste Beziehungen stürzen, nur um nicht alleine sein zu müssen. Sie setzen Alleinsein mit Einsamkeit gleich, sie fürchten die Leere, die Stille, die einsetzen könnte, wenn sie alleine sind. Deshalb sind IPhone und Tablet, Fernseher und Laptop, Facebook und Twitter wohl so beliebt – sie gaukeln Gesellschaft vor, übertünchen die Einsamkeit, lenken ab von dem, was man vielleicht fühlen könnte.
Manche Menschen scheinen große Angst davor zu haben alleine sein zu müssen.

Gewiss, wer als Kind mit großer Familie, vielen Geschwistern aufgewachsen ist und vielleicht nie ein eigenes Zimmer hatte und meist auf beengtem Raum gelebt hat, ist es gewohnt, immer unter Menschen zu sein – und wird das auch stärker brauchen. In manch anderen Kulturen ist es ebenfalls üblich stets in Gemeinschaft zu sein – da gibt es ein Zimmer für alle, da rückt man immer nahe aneinander, da steht man ständig mit anderen in Kontakt, egal was man gerade tut oder nicht tut – man tut es nicht allein. Das ist Gewohnheit.

Aber manche Menschen haben auch Angst vor dem, was in ihnen hochkommen könnte, wenn sie mal für sich alleine sind – da könnten die Dämonen auftauchen in Form von unangenehmen, unerwünschten Gedanken, Zweifeln, Fragen, Erkenntnisse, die vielleicht wehtun, denen man sich nicht gern stellen will. Vielleicht hat man schon lange vieles unter den Teppich gekehrt, Probleme vor sich hergeschoben, nicht wahrnehmen wollen, dass sich die Beziehung auseinanderentwickelt hat, dass der Job eigentlich nur mehr nervt und keinerlei Herausforderung mehr bietet, da wartet vielleicht einiges, das geklärt werden will. Und man flüchtet in Gesellschaft, die Dauerberieselung der Medien, in hektische Aktivitäten – nur nicht allein sein und womöglich einmal innehalten zu müssen – für viele kaum mehr auszuhalten.

Bevor ich mich mit anderen einsam fühle, bin ich lieber für mich allein

Alleinsein können ist wichtig. Es macht unabhängig. Wer immer auf Gesellschaft angewiesen ist, tut sich schwer, macht sich abhängig davon, dass immer jemand zur Stelle sein muss. Manche Prozesse setzen Alleinsein voraus – Gedanken klären, Gefühle ordnen, Eindrücke verarbeiten oder eben manch kreatives Tun, mancher Schaffensprozess.

Zu viel Alleinsein ist nicht gut – der Mensch ist ein soziales Wesen, wir brauchen einander, guter Kontakt zu anderen hält nachweislich jung und gesund und lebendig. Wir brauchen beides. Es geht wie immer um die richtige Balance.

Man kann das Alleinsein suchen, man kann es üben. Wie? Am besten in kleinen Schritten. Mal ein kurzer Spaziergang, nur mit sich selbst. Mal eine halbe Stunde auf die Couch, Fernseher und Handy aus, ein Nickerchen machen, vor sich hinträumen. Oder mal Tür zu und in aller Ruhe alte Fotos anschauen, einen Wellness Abend daheim nur für sich alleine einplanen, sich mit einem Buch auf die Parkbank setzen und lesen…
Fortgeschrittenere gehen auch mal alleine ins Kaffeehaus. Oder ins Kino. Die Geübteren buchen ein Wochenende in der Therme oder ziehen sich auf eine Almhütte zurück. Wer es geschafft hat mal ganz für und mit sich alleine auszukommen, kann seine Batterien auftanken und gestärkt und voller Selbstvertrauen wieder zurückkehren.
Wer allein sein kann ist vermutlich sogar weniger einsam – der kann sich gut mit sich selbst beschäftigen und braucht nicht immer einen anderen um sich um glücklich zu sein. Die beste Voraussetzung, um letztlich in Beziehung treten zu können.

„Wenn ich allein bin, bin ich am wenigsten allein“. (Cicero)