TROTZDEM
Morgens, wenn ich aufwache, noch im Halbbewusstsein, denke ich mir kurz: nein, es war nur ein Alptraum, dieser grauenvolle Krieg in der Ukraine, überhaupt all die Kriege und Gräueltaten auf der Welt, der Terror und die alltägliche Gewalt – ein schlimmer Traum, mehr nicht. Eine Reise in vergangene Zeiten, als die Menschheit noch nicht so weit entwickelt war…
Dann schlage ich die Augen auf, drehe das Radio an, nehme die Zeitung zur Hand… und weiß wieder: es ist Realität. Es ist die Zeit, in der wir leben. Es herrscht Krieg. In Europa und anderswo auf der Welt. Menschen töten andere Menschen. Werfen Bomben ab. Schießen mit Raketen auf andere, auf Wohngebäude, Theater, Krankenhäuser. Vor nichts machen sie Halt. Zerstören und töten Mensch, Tier und Umwelt.
Es fällt mir schwer, abzuschalten. In meinen Alltag zu finden. Und doch: vielleicht ist es gerade das, was noch Hoffnung gibt: Unser Alltag, den wir so gut es geht weiterleben. Sogar in der Ukraine, im Kriegsgebiet gehen die Menschen raus, räumen auf, säubern die Straßen, kümmern sich um die Infrastruktur, umeinander. Manche leben im Keller, in U-Bahnstationen. Leben dort weiter. Essen. Schlafen. Trinken. Reden miteinander. Halten einander im Arm. Machen Musik. Trösten einander. Tanzen. Tun, was nötig ist. Um das Leben aufrechtzuerhalten.
Manchmal schicke ich Grüße in die Ukraine. An unbekannte Menschen. Ich kann ihr Leid nicht erahnen. Nicht im geringsten. Mir fehlen meist die Worte. Ich fühle mich hilflos. Ohnmächtig. Angesichts dieser Grausamkeiten, die dort zum Alltag geworden sind. Ich schicke Bilder von Frühlingsblumen in städtischen Parks. In den Farben der Ukraine gepflanzt. Stille Zeichen der Verbundenheit. Jede/r tut, was sie/er kann.
Wann wird dieser Krieg beendet sein? Wieviel Menschen werden noch sterben müssen? Für nichts?
Ich habe das Bild gesehen einer jungen Frau. Mit roten Haaren und einem Korb Orangen, den sie lachend in die Kamera hält. Eine begabte Mathematikerin. Sie ist tot. Kriegsopfer nennt man das bei uns. Ein neunjähriger Junge wurde vermisst. Ein kleines, unschuldiges Kind. Man hat es gefunden. Tot.
Ich könnte weiter erzählen. Die vielen Bilder, Worte, Verzweiflungs- und Hilferufe, die über die Medien und sozialen Netzwerke hier landen. Ich lege die Zeitung aus der Hand. Für heute.
Mein Alltag ruft. Meine Arbeit. Meine Familie, die Freunde. Der Haushalt. Ich muss einkaufen gehen. Und zur Ärztin – meine Blutwerte sind da – alle tipptopp. Ich habe Bücher bestellt. Und die Emails wollen beantwortet werden.
Wir müssen unser Leben weiterleben. So gut wie möglich. Wir dürfen die Freude, das Schöne, das Genießen, die Hoffnung nicht aufgeben. Widerständisch machen wir weiter. Unbeirrt. Wir leben weiter. Überall. TROTZDEM.
Wir setzen der Gewalt, dem Terror ein TROTZDEM entgegen. Wir lassen uns nicht abkriegen. Von der Idee einer besseren Welt. Von der Sehnsucht nach Frieden. Von einem Miteinander. Wir können uns auf dieser Erde ein Paradies schaffen. Für alle. Und auch wenn es weit, unendlich weit entfernt scheint – wir bleiben dran. Wir geben nicht auf. Wir leben weiter.
TROTZDEM.