Erzählungen

das magische tor

(Veröffentlicht: Autorenkalender 2012 / Putlitzer Preis 2011)

 

durchschritt sie immer wieder. wenn der großvater kam, um auf sie aufzupassen. wenn die mutter nachtdienst hatte und betsy, die nachbarin, keine zeit. dann kam der großvater. und sie öffnete das tor. ein großes, altes, verrostetes tor mit quietschenden angeln. hoch hinauf reichte das tor und reich verziert war es wohl gewesen, einst, nur im laufe der zeit ein wenig verfallen, verrottet und verfallen, teils von grünlicher farbe überzogen. spinnweben hatten sich breit gemacht, da und dort war ein stückchen ausgeschlagen. machte nichts, hauptsache das tor war noch da und sie konnte hindurch schreiten, wann immer es ihr beliebte. wenn sie es geöffnet hatte, mit einiger kraftanstrengung, wenn sie die schwere tür aufgestoßen hatte, konnte sie hindurchschlüpfen, rasch, rasch, bevor sie wieder hinter ihr ins schloss fiel. es ging sich um haaresbreite nur aus, aber sie war klein und wendig, sie kam unbeschadet durch – stets. dahinter fing das paradies an, ihr paradies. sie hatte derer viele. viele verschiedene versionen. ihr paradies hatte viele gesichter. meist war sie alleine, wenn sie durch die gärten strich, durch den riesigen park mit den bäumen, die ihr geäst weit in den himmel streckten. das laub raschelte, ein leichter windhauch griff ihr ins haar, ließ es flattern und wirbelte es durcheinander. sie lief, sie tänzelte, sie schlenderte die wege entlang, mal blieb sie stehen und beobachtete die finken, die in den birken saßen und aufgeregt zwitscherten. mal sah sie zum horizont, der sich endlos vor ihr dehnte und versuchte die muster der wolken zu deuten, die dann und wann das satte himmelsblau durchbrachen. die sonne streichelte ihre haut mit warmen strahlen. unten am see angelangt machte sie halt, zog die schuhe aus und lief ins wasser, das blau und kühl ihre beine umspülte. bis zu den knien, ja bis zu den hüften hinauf stand sie im wasser, leichte wellen schwappten ihr bis zum bauchnabel. sie hatte ihren rock hochgezogen und überließ sich dem sanften, perlenden nass. wenn sie hinunter blickte zum grund, sah sie die steine und die kleinen fischlein, die umherschwärmten, ihr durch die beine schwänzelten. manchmal spürte sie, wie die fischlein sie berührten, sachte nur, eine kleine sachte bewegung und schon zogen sie weiter. sie ließ es geschehen, blieb still und reglos im wasser stehen, ließ den wind durch ihr haar streifen und hielt ihr gesicht den wärmenden strahlen der sonne entgegen. stille war. allerorts. sie roch den wald, der sich am gegenüberliegenden ufer entlang zog, das dicke grünbraun schimmernde dickicht, durch das sie sich manchmal wege suchte. sie liebte es in diesem, ihrem paradies herumzustreifen. irgendwann legte sie all ihre kleider ab und lief bloß und ohne scham durch den wald. legte die arme um die bäume, die sie kannte. viele, viele von ihnen hatten schon namen bekommen, waren ihr freund und vertraute geworden. sie legte die erhitzte wange an den rauen stamm, drückte sich fest gegen die harzig duftende rinde. der boden war moosig und weich unter ihren füßen. sie blieb solange es ging, solange sie zeit hatte. doch irgendwann zog es sie zurück zu ihrem tor. es öffnete sich beinahe wie von selbst und sie schlüpfte wieder hindurch, zurück in ihr gewohntes leben.

sie weiß nicht, wie viele stunden sie dort schon verbracht hat, in ihrem paradies, dort hinter dem magischen tor. jedes mal hatte es ein wenig anders ausgesehen, ihr paradies, aber jedes mal war sie glücklich gewesen dort zu sein. sie hatte die stunden genossen, jede minute war erfüllt von licht und wärme und wohlbefinden. gestärkt war sie jedes mal zurückgekommen. wenn das rostige alte tor hinter ihr ins schloß fiel, tat es ihr wohl leid und sie brauchte eine weile, bis sie sich wieder zurechtgefunden hatte, in der normalen welt, in ihrem alltag. doch das tor war ihr geblieben. über all die jahre. nie war es versperrt gewesen, immer hatte sie durchzuschlüpfen vermocht, wenn es ihr notwendig, dringlich erschien. bis heute noch flüchtet sie in diese welt jenseits der alten tür. eine welt, die nur sie kennt, zu der niemand sonst zutritt hat. wenn sie in den armen ihres mannes liegt, der sie liebkost, dann streckt sie ihre glieder aus, entspannt sich und geht auf ihre reise. so wie sie es schon immer getan hat. seit der großvater damals angefangen hatte, sich ihr zu nähern, wenn sie alleine waren, seitdem er seine hand zum ersten mal in ihr höschen gesteckt und ihr seinen riesigen dunklen runzligen schwanz zwischen die beine geschoben hatte.