Essay/Kolumne

Altern heißt wissen, was ich will…

(Veröffentlicht: Klipp, 2012)

Altern heißt Dinge sehen, die es einmal gab, nun nicht mehr gibt. Das alte Haus, das einst hier stand. Die Wiese, blumenbuntgesprenkelt, mit Schmetterlingen und der scheckigen Nachbarskatze, die hindurchschlich. Heute ein Betonbau in schlichtem Grau. Die alte Eiche, Inbegriff von Unendlichkeit, im Vorjahr vom Blitz gespalten. Abgetragen. Unscheinbare kleine Fichtenbäumchen heute. Dinge sehen, die es einmal gab. Dafür vieles nicht mehr sehen, was heute ist. Die Nachbarin kommt, um die Zeitung vorzulesen.

Altern heißt Erinnerungen anhäufen. Ja, regelrecht zu horten in den Schädelkammern. Je älter desto mehr. Immer voller wird der Kopf mit Bildern, Filmen, Tonspuren. Oft schon scheinen sie die Wirklichkeit zu überwuchern. Manchmal nicht mehr zu trennen, was war gestern, was ist heute. Klarer und detaillierter steht die Erinnerung da vor uns – und manchmal versperrt sie eben den Blick auf das, was ist. Jetzt ist. Wie durch einen Filter, einen Schleier blicken wir hindurch. Die Erinnerungen tönen das Jetzt, färben es ein, verleihen ihm eine einzigartige Patina.

Altern heißt wissen, was ich will. Und was ich nicht will. Und manchmal starr werden in diesem Wollen und Nicht-wollen. Geschlossene Gesellschaft. Nicht mehr bereit für allzu viele neue Erfahrungen, Eindrücke. Zu raumgreifend die bisherigen. Zu überbordend die nachfolgenden. Als wenn wir zu wenig Platz hätten in unseren Köpfen. Da ist doch noch Raum genug. Umschichten also.

Altern heißt Begegnungen sammeln. Berührungen. Augenblicke. Und Abschiede. Zwangsläufig. Je älter, desto öfter wird wohl ein Abschied genommen. Die eigene Welt wird kleiner, das Rundherum größer, fremder, undurchschaubarer, manchmal bedrohlicher. So viel Veränderung. Wie noch Schritt halten, wenn doch die Füße schmerzen. Und die Schritte kleiner geworden sind. Nur die eigene, gerade überschaubare Welt ringsum, die ist noch vertraut. Bis zum letzten Staubkorn hin. Liebgewonnen. Im täglichen Kampf ans Herz gewachsen vielleicht. Ritualisierte Gesten. Gewohnheiten. Wiederholungen. Leben im Detail. Und in der Langsamkeit. Das Tempo ist ein anderes geworden. Und doch: Hie und da blitzt unerwartet Neues auf. Unentdecktes, Unerforschtes. Ragt vorwitzige Neugier über den Tellerrand. Bricht ein neuer Gedanke durch, bahnt eine neue Vorliebe sich an, nähert sich ein Mensch, bis gestern noch unbekannt. Und da ist ja noch Platz, Platz genug. Im Kopf und in den Herzen.

Altern heißt Wissen, das sich anhäuft im Lauf der Jahre, Berge an Erfahrungen, Erkenntnissen. Wohin aber damit, wohin mit den Gedanken, Geschichten, den Bildern, die sich in den Vordergrund drängen. Wo zu verwahren, sammeln, sichtbar, haltbar machen?

Altern heißt wohl: bis zum Schluss sich neue Welten erschließen, nicht stehenbleiben. Schritthalten im Trippelschritt. Da sind noch Erfahrungen, die gemacht werden wollen, nicht immer gern, nicht immer leicht, aber: das Morgen wartet nicht, kennt keine Rücksicht, keine Nachsicht, nach jeder Nacht steht es von neuem da mit all seinen Herausforderungen.

 

 „Man begegnet der Zukunft mit der eigenen Vergangenheit.“ (Pearl S. Buck)