Psychokram

Vom professionellen Hasenfuß zum Abenteurer

Ich fühle mich geehrt. Ein Gastbeitrag auf der Seite einer Psychologin. Dabei war ich selbst vor einem Jahr noch Patient mit schweren Panikattacken und Depressionen. Dr. Karin Klug hat mich gebeten, hier in Kürze meine Lebens- und Leidensgeschichte zu präsentieren und wie ich den Weg in eine positive Zukunft gefunden habe. Diesem Ansinnen komme ich sehr gerne nach. Ergänzend kann ich nur empfehlen, das wunderbare Interview zu lesen, das Bettina von Oh my Yogi mit mir vor Kurzem geführt hat. Das erklärt einige Dinge noch besser, die ich hier nur anreißen kann. Zudem erfahrt ihr alles Wichtige über mich auf meinem Blog www.adios-angst.de

1. Meine Krankheitssymptome von Depression und Panikattacken
Die Depressionen haben sich bemerkbar gemacht durch absolute Antriebslosigkeit. Durch ein andauerndes Schwächegefühl. Durch Appetitlosigkeit. Durch sexuelle Lustlosigkeit. Durch das fast vollständige Verschwinden positiver Gedanken. Durch extrem schlechten Schlaf bis hin zu fast vollständiger Schlaflosigkeit. Durch starkes nächtliches Schwitzen. Durch das Gefühl, morgens nicht mehr aus dem Bett zu kommen, weil alle Glieder bleischwer sind. Und das Schlimmste: Dass sich all meine Gedanken nur noch um mich und meinen gesundheitlichen Zustand gedreht haben. 24 Stunden lang. Ohne Gnade. All die schönen Dinge des Lebens waren in diesen Zeiten nicht mehr existent. Auch, wenn ich nicht suizidal war, habe ich mir oft gedacht, dass das Leben auf diese Art eigentlich nicht auszuhalten ist.
Bei den Panikattacken waren die Symptome Herzrasen (Puls über 200), kalter Schweiß, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen – also alles das, was auch mit einem echten Herzinfarkt einhergehen kann, nur dass ich kerngesund war. Dazu habe ich noch hyperventiliert. Ich dachte, ich sterbe und wusste gleichzeitig, dass ich es nicht tue – ein surreales Gefühl. Später, in der schlimmsten Phase, war es, wie wenn mir einer den Boden unter den Füßen wegzieht. Ich hatte Probleme, einen Fuß vor den anderen zu setzen und bin teilweise nur noch herumgestakst.

2. Misslungene Versuche zur Lösung meiner Probleme
– Zehn Jahre lange Psychotherapie. War im Nachhinein aber aus meiner Sicht zu stark auf die medikamentöse Seite und zu wenig auf Verhaltenstherapie ausgerichtet.
– Entspannungstechniken
– Visualisierungstechniken
– Yoga
– Hypnose-Akupunktur
Das sind alles Dinge, die einem helfen können. Nur hat bei mir eines gefehlt: Ich habe mich den Ängsten nicht gestellt und bin potenziell angstauslösenden Situationen aus dem Weg gegangen. Erst als ich das geändert und den Glauben an mich zurückbekommen habe, war eine Lösung meiner Probleme möglich.

3. Der Wendepunkt
So komisch das klingt, aber der schlimmste Tag meines Lebens war der wichtigste. Der Tag, an dem ich morgens aufgewacht bin und gemerkt habe, dass ich mich nicht einmal mehr allein aus dem Haus traue. Ein kompletter Zusammenbruch, vollkommen erschlagen und völlig panisch zugleich. So unwirklich, so schmerzhaft. Nach einer Beruhigungsspritze vom Hausarzt konnte ich zum ersten Mal seit Wochen überhaupt wieder richtig schlafen. Als ich am nächsten Tag aufgewacht bin, habe ich gewusst: So kann es nicht weitergehen, jetzt muss sich etwas radikal ändern. Während mir von mehreren Seiten zur nächsten ambulanten Therapie geraten wurde, habe ich mich um eine Aufnahme in der psychosomatischen Klinik gekümmert. Das war mein Lebensretter.

4. Der entscheidende Satz: „Das ist deine letzte Chance“
Mir war sonnenklar: Wenn ich nach mehr als 20 Jahren mit Panikattacken und drei schweren Depressionen jetzt nicht die Kurve kriege, dann schaffe ich es wahrscheinlich nie mehr. Deshalb war ab dann mein Credo: „Es ist deine letzte Chance. Nutze sie!“ Klingt dramatisch. Aber war in dieser Stärke und Endgültigkeit notwendig.
Denn auf einmal habe ich mich in alles reingestürzt, was früher undenkbar gewesen wäre. Habe alle Therapieangebote in der Klinik ohne zu zögern mitgemacht. Hört sich selbstverständlich an, ist aber nicht so. Viele Patienten kommen auch in der Klinik nicht aus ihren alten Mustern heraus, nehmen verschiedene Angebote nicht wahr und sagen: „Das bringt mir nichts.“
Der Chefarzt hat mich gleich nach wenigen Tagen gefragt, vor was ich aktuell den größten Horror hätte. Meine Antwort lautete: „Vor mehreren Menschen zu sprechen.“ Daraufhin durfte ich am nächsten Morgen einen kurzen Vortrag vor 80 Mitpatienten halten – die Nacht zuvor habe ich nicht wirklich viel geschlafen vor Aufregung – und habe festgestellt, dass ich dabei weder tot umfalle noch mich bis auf die Knochen blamiere. Hinterher kamen andere Patienten zu mir und meinten, ob ich mir sicher sei, dass ich Angst vor Vorträgen hätte. Für sie sei es einer der besten und lustigsten gewesen, den sie je gehört hätten.
Dieses neue Selbstvertrauen hat mir unglaublichen Rückenwind für die nächsten Prüfungen gegeben. Der Höhepunkt war, als ich als Vorredner vor dem wöchentlichen Vortrag des Chefarztes vor 150 Leuten fünf Minuten reden durfte. Das Herzklopfen und der rote Kopf waren immer inklusive. Aber das war vollkommen egal, denn ich habe die Aufgaben gemeistert.
Für mich war die Zeit in der Klinik eine riesengroße Spielwiese, auf der ich in sicherer Umgebung ausprobieren konnte, was ich mich draußen im „echten Leben“ nicht mehr getraut hatte. So bin ich trotz riesengroßer Höhenangst auf eigene Faust die Feuerleiter am Haus bis in den 4. Stock hochgegangen. Eine Wendeltreppe mit Blick durch die Gitterroste nach unten. Eine Woche später schlug der Chefarzt vor, ich könnte das doch mal mit Hilfe meines Therapeuten ausprobieren und schauen, wie weit ich komme. Da habe ich ihm voller Stolz geantwortet: „Ich war schon ganz oben – allein.“
Entscheidend für meine großen Fortschritte war auch, dass ich mich durch die Mitpatienten richtig getragen gefühlt habe. Es tut unheimlich gut, Menschen um sich zu haben, die dieselben oder ähnlichen Probleme haben, und sich mit ihnen in jeder freien Minute austauschen zu können. Denn egal, wie verständnisvoll deine Familie, dein Partner, deine Freunde sind: Niemand, der noch keine Panikattacke oder Depression durchgemacht hat, kann sich annähernd vorstellen, was in einem vorgeht.
Alles in allem war mir nichts zu schwierig oder zu peinlich, als dass ich es nicht angepackt hätte. Inklusive einer improvisierten Abschieds-Singshow mit zwei Mitpatienten, bei deren Ausführung ich früher vor Scham in den Boden versunken wäre. Sie war nicht gut, aber unheimlich lustig.
Seit der Zeit in der Klinik ist mein Motto: „Du kannst alles, wenn du nur willst. Im Endeffekt ist alles nicht einmal halb so dramatisch, wie du es dir im Vorfeld ausgemalt hast.“

5. Vom professionellen Hasenfuß zum Aussteiger
Alles, was nach der Zeit in der Klinik gefolgt ist, war eine logische Konsequenz aus den Dingen, die ich für mich gelernt hatte. Meine neu gewonnene Klarheit sagte mir: „Du brauchst mehr Freiheit. Du musst öfter das Abenteuer suchen und dadurch noch mutiger werden.“ Somit hatte ich keine Angst mehr davor, meinen Job nach elf Jahren als Sportredakteur hinzuschmeißen. Und einen VW Bus zu kaufen, um mit ihm auf die Abenteuerreise meines Lebens zu gehen.
Rund zwei Monate, bevor ich nach Deutschland zurückkehren werde, stellt sich natürlich die Frage: „Was ist mit der großen Unsicherheit? Wie geht es weiter? Wie verdiene ich später mein Geld?“ Früher hätten mich solche Gedanken um den Schlaf gebracht. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor der Zukunft. Ich habe ein so großes Vertrauen in die Dinge, die passieren – und das hat sich im vergangenen Jahr immer als richtig herausgestellt -, dass ich meinen Weg gehen und meine Erfüllung finden werde. Die ersten Weichen sind schon gestellt. Aber nicht, weil ich fieberhaft nach Lösungen gesucht habe, sondern weil ich die Dinge auf mich zukommen lasse. Ich bin quasi das Opfer meiner Gelassenheit und positiven Gedanken.

Eines ist mir in den vergangenen Monaten noch viel stärker ins Bewusstsein gerückt: Die Zeit, nicht das Geld, ist der limitierende Faktor im Leben. Zeit für mich, Zeit für meine vielen Interessen und neuen Abenteuer. Und vor allem Zeit, die ich anderen Menschen widmen kann. Für Zeit verzichte ich gerne auf Geld. Ich mache ab jetzt nur noch die Dinge, die mir gut tun. Das bin ich meiner Gesundheit schuldig. Mit dem Schmerzensgeld für die Ausbeutung im Hamsterrad habe ich gerne Dinge zur Kompensation gekauft oder mir etwas Besonderes gegönnt. Das brauche ich jetzt nicht mehr, weil mein Leben gut genug ist, so wie es ist. Freiheit ist mit Geld nicht aufzuwiegen.

MISCHA MILTENBERGER (Foto: Mischa unterwegs – Lofoten)