Hochsensibel und hochbegabt
Corinna Kegel: „Die fabelhafte Welt der Hochsensiblen und Hochbegabten“. Gütersloher Verlagshaus, München, 1. Auflage 2016.
Corinna Kegel arbeitet u.a. als Trainerin und Coach für hochbegabte und hochsensible Erwachsene in Hamburg. Nun hat sie ein Buch zum Thema geschrieben, das mir von der Verlagsgruppe Random House GmbH dankenswerter Weise zur Rezension zur Verfügung gestellt wurde. Titel: „Die fabelhafte Welt der Hochsensiblen und Hochbegabten“.
Das Buch ist kein Fachbuch im eigentlichen Sinn, es erzählt Geschichten. Geschichten von Menschen mit ihren Zweifeln, Sehnsüchten, Schwierigkeiten, Hoffnungen… und v.a. auch Lösungsansätzen und neuen Wegen, die sie für sich entdecken.
Corinna Kegel hat das Buch in 15 Kapitel unterteilt, die sich mit verschiedenen Aspekten im Leben von Hochbegabten (HB) und Hochsensiblen (HSP) beschäftigen. Beispiele: „Nur Mut, Sie sind keine Ente – Sie sind ein Schwan! – vom Suchen und Finden des eigenen Wertes“. Oder: „Der Denker – vom Entscheiden, Grübeln und Zerdenken, bis nichts mehr bleibt“. „Der Zappelphilipp“, „Die Nörglerin“, „Der Zauberer, die Hexe, der Priester und die weise Frau“, „Pippi Langstrumpf“ und „Der Neunmalkluge“ – so noch einige der weiteren, phantasievollen Bezeichnungen, die Lebensthemen von HB und HSP umschreiben.
„Dieses Buch ist explizit kein wissenschaftliches“, so die Autorin. Es arbeitet mit Bildern und Geschichten und will damit andere (Bewusstseins)Ebenen ansprechen. In dem Sinn: Kein Kopf-Buch, sondern ein Geschichtenbuch zum sich-selbst-wiederfinden oder um Erklärungen zu finden für das manchmal seltsame Verhalten von anderen. Gut zu lesen also für Laien, aber auch nicht uninteressant und sehr erfrischend fürs Fachpublikum.
Die Begriffsklärung wird kurz gehalten: Als ausschlaggebendes Kriterium für Hochbegabung gilt der IQ (der sich mittels verschiedener Testungen messen lässt): Ab einem Wert von 120 spricht man von überdurchschnittlicher intellektueller Begabung, ab 130 von Hochbegabung, ab 145 von Höchstbegabung. Was das genau bedeutet wird jedoch nicht weiter erklärt. Und das könnte Kritikpunkt sein, auch generell am System dieser Beurteilung: Was genau bedeutet denn Begabung? Auch hier gibt es verschiedene Facetten – und wie schaut es mit nicht-intellektuellen, zb handwerklichen, sozialen, sportlichen, künstlerischen (Hoch-)Begabungen aus?
Noch schwieriger ist der Bereich Hochsensibilität zu fassen und zu messen. Vereinfacht gesagt: „Hochsensible Menschen verfügen über ein Nervensystem, das es ihnen ermöglicht, empfindsamer und feiner wahrzunehmen als die meisten anderen Menschen… Mehrere oder alle ihre Sinne sind empfänglicher für Reize.“ Und das kann zur Belastung werden, weil viel mehr aufgenommen wird und verarbeitet werden muss – was wiederum schnell zu Überforderung bzw. Überlastung führen kann. Ob das Filme sind, die schwer zu verdauen sind oder kratzende T-Shirts, drückende Schuhe, aufdringliche Parfums und Gerüche, große Licht- und Wärmeempfindlichkeit, spürbare Strahlenbelastung durch Handys, lärmende Menschenmengen – Hochsensible erleben die Welt anders, intensiver.
Beides, Hochbegabung und Hochsensibilität wird oft nicht erkannt, mehr als Makel, Störfaktor wahrgenommen und kann das Leben der Betroffenen als auch ihres Umfelds schwer beeinträchtigen. Die Autorin plädiert dafür, stattdessen diese Fähigkeiten bewusst als solche anzuerkennen und als Geschenk zu betrachten, das es zu nutzen gilt. Beides ist nicht Krankheit, Störung, die es wegzutherapieren gilt. „Wir sind nicht krank, wir sind reich beschenkt mit einer Vielzahl von Genüssen, Empfindungen, Gefühlen und Wahrnehmungen, mit einem wachen Geist, der unglaublich schnell und komplex arbeitet und der sich Welten erschließt, die den meisten anderen Menschen verborgen bleiben“.
Was ich beim Lesen als unklar erlebt habe ist die Trennung der beiden Aspekte: Nicht jeder Hochbegabte muss hochsensibel sein und umgekehrt. Beides wird in dem Buch für meinen Geschmack stark vermischt – oft ist nicht klar, wer nun gemeint ist. Am ehesten wiederfinden werden sich vermutlich Menschen, auf die beides zutrifft.
Was aber auffällt: Viele Typen, viele Beschreibungen finden sich durchaus auch unter Normalsterblichen wieder. Mit Perfektionismus und Selbstzweifeln, mit einem mageren Selbstwertgefühl, mit Schwierigkeiten im Umgang mit Autoritäten, mit dauernden Grübeleien, mit zwischenmenschlichen Problemen kämpfen heutzutage sehr viele Menschen. Und angesichts unserer wachsenden Reizüberflutung muss man nicht hochsensibel sein, um schnell einmal überfordert zu sein – von zu viel Information, Lärm, Schmutz, Gestank, von zu vielen Dingen, die auf einmal auf den Einzelnen einprasseln. Insofern könnten sich meiner Einschätzung nach wahrscheinlich sehr viel mehr Menschen in den lebendig geschilderten Portraits wiederentdecken.
Alles in allem ein gut lesbares Buch, das sich den Themen Hochbegabung und Hochsensibilität auf berührende, spannende und humorvolle Weise nähert. Wer gerne in den Lebensgeschichten anderer schmökert, sich von deren Entwicklung und Wachstum inspirieren lässt, der kann sich viel aus dem Buch rausholen – ob mit oder ohne Hochbegabung. Es ist auf jeden Fall ein Mut-mach-Buch, das helfen kann, „all das Wunderbare zu entdecken, was in Ihnen noch schlummert, alle Geschenke auszupacken, die Sie mitbekommen haben…“