Buchbesprechung

Nie wieder perfekt

(Veröffentlicht in: Intra / Psychologie & Gesellschaft, 1999)

Allan E. Mallinger / Jeanette de Wyze: „Nie wieder perfekt! Die Kunst loszulassen“, Oesch Verlag, 1998

 

fällt es ihnen schwer, entscheidungen zu treffen? finden sie es peinlich, „die kontrolle zu verlieren“ und gefühle zu zeigen? machen sie sich mehr sorgen als andere leute? listen sie ständig dinge auf, die sie tun „sollten“, sogar in ihrer freizeit? und wenn „ja“: verursacht ihnen dieser charakterzug schwierigkeiten in ihren beziehungen, bei der arbeit oder bei freizeitaktivitäten? beeinträchtigt er ihre fähigkeit, das leben zu genießen? nun, dann sind sie reif für dieses buch, meint dr. mallinger – und ich kann mich ihm nur anschließen. denn „dies ist ein buch über menschen, die so perfekt sind, daß sie sich damit schaden“. es ist das altbekannte lied: zuviel vom guten kehrt sich ins gegenteil, wird schädlich. und schon nach den ersten paar seiten dieses einfach und gut lesbaren schmökers wird klar, daß fast jeder von uns ein bißchen zuviel perfektionismus in sich herumträgt. wir alle wollen perfekt sein – was unseren job, unser aussehen, unsere wohnungen, und leider oft auch unsere beziehungen betrifft. und schon wandelt sich die tugend zum zwang. zwanghaftigkeit (und darum geht es in diesem buch) bedeutet nicht nur für betroffene ein einbuße von lebensqualität, sondern stellt auch psychiater und therapeuten vor eine außerordentlich schwierige herausforderungen, denn „zwanghafte menschen üben gerne kontrolle aus, sie sind verkopft oder mißtrauisch, geheimniskrämerisch oder emotional gehemmt, sie sträuben sich gegen eine veränderung – oder sie sind all das zusammen, wobei jeder dieser punkte die therapie erschweren kann.“

seine eigene arbeit als psychiater sowie die erkenntnis, daß viele menschen, die im klinischen sinn unauffällig sind, sich dennoch mit dem einen oder anderen zwanghaften charakterzug herumschlagen müssen, nahm der autor zum anlaß, diese buch nicht als wissenschaftliche abhandlung zu schreiben, sondern sich direkt und persönlich an den zwanghaften menschen oder jene, die mit einem zwanghaften in engen kontakt stehen, zu wenden. wobei es hier weniger um eine einzelne isolierte verhaltensweise oder ein klinisches symptom, wie beispielsweise den waschzwang geht, sondern um einen bestimmten persönlichkeitstypus. zwanghaftigkeit ist nach meinung des autors bis zu einem gewissen grad ein uralter anpassungsmechanismus, dessen wurzeln in unserer kindheit liegen. „wenn es eine spezifische eigenschaft gibt, die zwanghafte menschen charakterisiert, dann ist es ein starkes, unbewußtes bedürfnis nach kontrolle – über sich selbst, über andere und über die risiken des lebens.“ frühe gefühle der unsicherheit, das gefühl, nie gut genug zu sein, nur dann akzeptiert worden zu sein, wenn man als kind brav war, gute leistungen erbrachte, die erwartungen der eltern erfüllte – all diese frühen erfahrungen zusammen mit der genetischen und konstitutionellen struktur des menschen, eingebettet in kulturelle werte, bestimmen maß und ausmaß der „erwachsenen“ zwanghaftigkeit. kinder, die sich zu einer zwanghaften persönlichkeit entwickeln, sind zutiefst verängstigt: „sie leben in einer welt, in der sie sich verletzlich fühlen und die sie als bedrohlich und unberechenbar wahrnehmen.“ der beste nährboden für die zwanghafte persönlichkeit! über den mythos der kontrolle (über sich selbst, über andere und über äußere ereignisse) versuchen wir, unsere kindheitsängste in den griff zu kriegen. wenn wir es schaffen, unsere gefühle zu kontrollieren, immer unfehlbar zu sein, die „regeln“ jeder situation sofort zu erkennen und zu befolgen, um dadurch jede kritik von vornherein zu vermeiden, dann glauben wir, uns damit vor den gefahren des lebens schützen zu können. der hacken an der sache: wir brocken uns dadurch meist nur noch mehr probleme ein.

arbeitssucht, die angst, sich auf beziehungen einzulassen, ewiges zaudern, übertriebene vorsicht, ständige besorgnis, überempfindlichkeit gegenüber druck und forderungen, extreme ordnungsliebe – in zehn kapitel untergliedert zeigt der autor anschaulich, wohin uns unsere zwanghaftigkeit oft unbemerkt führen kann. als fachmann weist uns dr. mallinger jedoch auch den weg weg vom allzu perfektionistischen. aus den vielen denkaufgaben, übungen, tips und alltagsrelevanten vorschlägen kann sich jede/r leser/in die entsprechenden beispiele heraussuchen, um den ersten schritt zur veränderung zu setzen – in richtung eines leichteren, erfüllteren lebens. oder um mit den worten der fünfundachtzigjährige nadine stair zu sprechen: wenn ich mein leben noch einmal leben könnte, „würde ich das nächste mal gern mehr fehler machen. ich würde mich entspannen…ich würde weniger dinge ernst nehmen. ich würde mehr chancen wahrnehmen… ich hätte vielleicht mehr wirkliche probleme, aber ich hätte weniger imaginäre… ich war einer der menschen, die niemals irgendwohin gehen, ohne ein thermometer, eine wärmeflasche, einen regenschirm und einen fallschirm dabeizuhaben. wenn ich es noch einmal machen müßte, dann würde ich mit leichterem gepäck reisen.“